Wer hat Angst vor Terroir?

wer hat Angst vor Terroir?

Artikel, VDP- The Book, 2018

Selektion J, Cuvee Max, Spätlese***, Alte Reben, Reserve… Begeben wir uns auf eine Zeitreise in die Weinwelt der 1990er Jahre. Die Namen weltberühmter Gemeinden und Einzellagen haben ihre Strahlkraft weitgehend verloren und schmachten, oft aufgemotzt mit dem Prädikat Spätlese, in den unteren Regalen der Discounter. So ziemlich alles, was den deutschen Wein in der Belle Époque als einen der begehrtesten Tropfen der Welt auszeichnete, wurde in den Wirtschaftswunderjahren auf dem billigem Marketingaltar verbrannt. Hochwertige Weine sind im Wesentlichen über die Namen der bekannten Weingüter definiert. Am besten in Verbindung mit Trocken, Bio und einem gut klingenden Appendix.

Mit den 90er Jahren beginnen aber auch die Dekaden der Biotechnologie. Nach Jahren der Ertragssteigerungen, Schlagkraft und Hygiene, wird mit „neuen önologischen Verfahren“, gepaart mit gezüchteten Hefen, Enzymen & CO, ein neues Wein-Zeitalter eingeläutet. Das moderne Food-Design erlaubt bislang ungeahnte Möglichkeiten der Verbesserung oder – je nach Standpunkt – Manipulation von Geschmack. Und der Winzer? Spielt er die Rolle von Miraculix, der mit wohlschmeckendem Zaubertrank die Weininvasoren aus romanischen Gefilden abwehrt? Oder ist er eine Inkarnation Frankensteins, der sich mit der Züchtung von Monstern an der Schöpfung versündigt? Wie auch immer… Der Wein jedenfalls ist angekommen in der globalisierten Industriegesellschaft. „Geschmacksoptimierung!“, ruft der önologische Zeitgeist. 

Und dann war es auf einmal da, das T-Wort. TERROIR. Was für ein Wort! Was für ein Sound, oder besser „quel son magnifique“, denn was da in so wohlklingenden Französisch daherkommt, ist schon die halbe Marketing-Miete. Das T-Wort klingt nach Erde, nach Natur und nach Authentizität. Nebulös und geheimnisvoll spielt es darüber hinaus mit der wachsenden Sehnsucht nach Spiritualität. Während sich die Weinproduktion mit dem nüchternen Geist der Wissenschaft in die Industriegesellschaft katapultiert, wird die Aufklärung im Marketing abgeschafft. Verkauft werden nicht mehr Weine mit Analysedaten, sondern Weine mit zielgruppenorientierten Emotionen. Passend zum Zeitgeist. Der Sozialismus als gesellschaftliche Utopie hat endgültig abgedankt und das bürgerliche „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ evoziert nur noch ein müdes Lächeln. Im Vordergrund stehen die Sorgen um Meeresspiegel und Juchtenkäfer und, immer stärker, das Streben nach regionaler Identität, die Sehnsucht nach Heimat. Wiedervereinigt wird das Wort Deutschland wieder salonfähig und dank einer jungen Winzergeneration sind die deutschen Weine dabei, ihr verstaubtes Image abzulegen. Emotional positiv aufgeladen erobern sie die Speisekarten der Sternerestaurants und die Herzen der Weinfreaks. Und sie schmecken! Und das immer besser! Weine aus roten Trauben emanzipieren sich zu fantastischen Rotweinen und fette Ruländer verpuppen sich zu zartgliedrigen Grauburgundern. Barocke Silvaner werden Balletttänzer und ehemals süßliche Rieslinge strahlen mit Eleganz, Kraft und vibrierender Mineralität. 

Wenn nur die seltsamen Namen nicht wären. Spätlese trocken, Auslese trocken… was für den deutschen Markt einigermaßen funktioniert, lässt die Welt den Kopf schütteln. Waren Spät- und Auslesen doch gelernte Synonyme für restsüße Weine. Und das Ganze jetzt auf einmal trocken? 

Was tun? Brainstorming engagierter Vordenker… und es entstand das Konzept „Erstes Gewächs“ Angelehnt an die alte englische Bezeichnung „first growth“ hatten die trockenen Spitzengewächse im VDP nun aber nicht nur einen neuen Namen, sondern auch einen sinnvollen Kontext: Die Klassifikation der Weinberge. Vom Öchsle zum Weinberg! Was für ein provokativer Tabubruch mit einer seit 100 Jahren auf scheinbar objektiven Fakten basierenden Weinsystematik. 


Die Klassifikation im VDP bekam Dynamik. Die Ersten Gewächse wanderten aus weinrechtlichen Gründen in den Rheingau, andere Regionen proklamierten Große Gewächse und die Mosel adelte ihre besten Weinberge mit der Bezeichnung Erste Lagen. Chaos auf ganzer Linie. Das neue Jahrtausend begann für den VDP mit schwierigen Diskussionen. Es war ein langwieriger und mühevoller Prozess, bis 2012 die neue Klassifikation dann endlich verabschiedet werden konnte: Gutsweine als solide Basis, Ortsweine im gehobenen Segment, getoppt von den Ersten Lagen und gekrönt von den Großen Lagen. Die Namen von über tausend nicht klassifikationswürdigen Einzellagen sind verschwunden, Kabinett, Spät- und Auslesen kommunizieren ein fruchtiges Geschmacksprofil, und die trockenen Spitzenweine tragen die Namen Erstes Gewächs resp. Großes Gewächs. 


So weit, so gut. Nein, nicht gut, sondern sehr gut. Denn eine mit einer Lageklassifikation verbundene einheitliche Kommunikation von Weinen in einem ganzen Land, in 13 verschiedenen Anbaugebieten mit unterschiedlicher Historie und eigenen Befindlichkeiten, das soll erst mal jemand nachmachen! Ohne Einmischung staatlicher Organe hat der VDP nicht nur ein weinkulturelles Jahrhundertwerk geschaffen, sondern auch die erste ökonomisch wirklich erfolgreiche Innovation in der bundesdeutschen Weinlandschaft. Immer heller strahlen die deutschen Spitzenlagen nun am Weinhimmel. Und die Großen Gewächse werden mit dem Kosenamen „GG“ international zu steigenden Preisen nachgefragt.

Natürlich bleiben offenen Fragen. Sind alle Weinberge sinnvoll abgegrenzt, passen die zugelassenen Rebsorten? Ein Großes Gewächs aus Großer Lage – geht das nicht etwas weniger tautologisch? Wie restriktiv sollen die Anforderungen an Pflanzdichte, Erntemengen und Geschmacksprofile sein? Wie ökologisch, wie nachhaltig sollten oder müssten Terroirweine sein. Und, wenn wir schon dauernd das Wort in den Mund nehmen: Wann ist ein Wein denn eigentlich ein Terroirwein?


In dem französischen Wort stecken neben viel Boden und Region je nach Interpret auch der Winzer und ein wenig von dem, was wir in der deutschen Sprache als Heimat bezeichnen. Ein Terroirwein also ein Wein, bei dem sich diese Dimensionen im Glas wiederfinden. Hört sich erst mal gut an. Terroir ist Herkunft. OK. Aber wie schmeckt ein Weinberg, wie schmeckt eine Region?


Wechselndes Klima, neue Rebsorten, kulturelle Tabus, technische Innovationen… Wein hat sich schon immer kontinuierlich verändert. Typisch und Traditionell funktionieren als Geschmackszuweisung in Europa immer nur dann, wenn die Begriffe auf relativ kleine Zeitfenster beschränkt sind. Und was machen wir mit Kalifornien? Dürfen dortige Winzer keine Terroirweine haben? Und was ist mit einem nach Australien schmeckenden Yellow Tail und einer nach Rheinhessen schmeckenden Blue Nun. Es sind Weine mit typischem Regionalcharakter. Und damit ja auch Terroirweine. Und dann? Dann sollten wir das T-Wort lieber vergessen. Oder?


Nein. Wir sollten es nicht vergessen, sondern den Begriff inhaltlich erweitern. 

Was haben moderne Erbsündeinterpretationen, feministische Matriarchatsträume, verkitschte Ökoromantik und Naturweinpropaganda gemeinsam? Die Idee der guten Mutter Natur und dem bösen, egoistischen Menschen. Eine ideologisch gefährliche, aber den hirnvernebelnden Zeitgeist gut spiegelnde Rattenfängerparole. Realiter sind Weinberge keine Naturlandschaften und Weine alles andere als Naturprodukte. Weinberge und Weine wollen der Natur abgerungen werden. Sie sind Kinder der Zivilisation, gehören zur Agrikultur, der wohl ältesten Form der produktiven Interaktion des Menschen mit der Natur.


Hier liegt der kontemporäre Ansatz. Bei der Kultur, bei der Frage nach dem sinnvollen Umgang des Menschen mit der Natur. Wo endet liebevoller Umgang, wo beginnt Vergewaltigung? Wo schlägt ökologisch verantwortliches Handeln um in die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen? Wann verwandelt sich bäuerliches Handwerk in Industrie? Wie viel Individualismus verträgt die geschmackliche Interpretation eines Weinbergs? Oder, anders gefragt: Wieviel akustische Verstärkung verträgt eine Oper? Wie viel Bildbearbeitung eine Fotographie? Wo bleibt „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“? (Walter Benjamin) 


Werden wir konkret und beleuchten als einen Aspekt von vielen die sogenannten Reinzuchthefen. Gut oder schlecht? Natürlich gut, sagt die Gesundheit, denn sie helfen Schwefel einzusparen und produzieren weniger allergene Histamine. Nichts dagegen, sagt die Ökobewegung, solange hier nicht genetisch manipuliert wurde. Kein Problem, sagt jüdische Orthodoxie, solange koscher gearbeitet wurde. Schlecht, sagt die Anthroposophie, denn so oder so sollte Alkohol aus unserem Leben verschwinden. Brauchen wir nicht, sagt die Tradition, schließlich ging’s seit vielen 1000 Jahren ganz gut auch ohne. Auf gar keinen Fall, sagt die Konsequenz, denn es sind ja vor allem die vielen unterschiedlichen wilden Hefen, die neben dem Boden für geschmackliche Authentizität verantwortlich sind. Unverzichtbar, sagt das Controlling, die Risiken sind sonst viel zu groß. Mir doch egal, sagt die Ignoranz, Hauptsache es schmeckt. Super, sagt das Marketing, denn mit der richtigen Hefeauswahl produziere ich genau den Geschmack, den meine Kunden nachfragen. 


Und die Hefe selbst? Wurde ihr fremde DNA eingepflanzt, wurde an ihr mit der Gen-Schere herumgeschnippelt oder wurde sie klassisch auf bestimmte Merkmale hin gezüchtet? Stammt sie ursprünglich aus den Weinbergen der Region? Oder gar aus eigenem Weinberg? Oder wurde sie aus eigenem Wein herausgefischt und wird ganz individuell weiter vermehrt? 


Und was ist wenn die Hefe während der Vinifikation mehrfach aufgerührt wird, der Wein viel Sauerstoff und kaum Schwefel gesehen hat und der Geschmack des Weinbergs nur noch erahnt werden kann?

Wie bei so vielen anderen Aspekten von Terroir gibt es auch hier kein Richtig oder Falsch, sondern ein Sinnvoll, eine Perspektive, eine kulturelle Haltung (Und den Göttern sei‘s gedankt, dass wir in einer ziemlich pluralistischen Gesellschaft leben!). Terroir ist verbandelt mit Komplexität, möchte systemisch gedacht und gefühlt sein. Terroir ist widersprüchlich und disruptiv.


Zu kompliziert, verunsichert, gar genervt? Dann doch lieber Industrieweine? Gerne, kein Problem. Der globalisierte Weinmarkt bietet einen riesigen Bauchladen voller reproduzierbarer Geschmackserlebnisse, bietet für jede Zielgruppe das richtige Gefühl im richtigen Preissegment. 


Terroirweine sind die kulturelle Alternative. Sie laden ein zu einer Reise in die Welt zwischen Struktur und Chaos, zu Verunsicherung und Überraschung, zu Provokation und authentischem Genuss. Terroirweine führen uns durch unterschiedliche Regionen, geologische Formationen und Klimaverhältnisse. Und sie begleiten uns zu unterschiedlichen Kulturen, Menschen, Träumen und Fantasien. Terroirweine spiegeln unsere Seelenzustände und erweitern unser Bewusstsein. Sie sind der vielleicht genussvollste Aspekt der Emanzipation. 

wer hat Angst vor Terroir?

Artikel, VDP- The Book, 2018

Selektion J, Cuvee Max, Spätlese***, Alte Reben, Reserve… Begeben wir uns auf eine Zeitreise in die Weinwelt der 1990er Jahre. Die Namen weltberühmter Gemeinden und Einzellagen haben ihre Strahlkraft weitgehend verloren und schmachten, oft aufgemotzt mit dem Prädikat Spätlese, in den unteren Regalen der Discounter. So ziemlich alles, was den deutschen Wein in der Belle Époque als einen der begehrtesten Tropfen der Welt auszeichnete, wurde in den Wirtschaftswunderjahren auf dem billigem Marketingaltar verbrannt. Hochwertige Weine sind im Wesentlichen über die Namen der bekannten Weingüter definiert. Am besten in Verbindung mit Trocken, Bio und einem gut klingenden Appendix.

Mit den 90er Jahren beginnen aber auch die Dekaden der Biotechnologie. Nach Jahren der Ertragssteigerungen, Schlagkraft und Hygiene, wird mit „neuen önologischen Verfahren“, gepaart mit gezüchteten Hefen, Enzymen & CO, ein neues Wein-Zeitalter eingeläutet. Das moderne Food-Design erlaubt bislang ungeahnte Möglichkeiten der Verbesserung oder – je nach Standpunkt – Manipulation von Geschmack. Und der Winzer? Spielt er die Rolle von Miraculix, der mit wohlschmeckendem Zaubertrank die Weininvasoren aus romanischen Gefilden abwehrt? Oder ist er eine Inkarnation Frankensteins, der sich mit der Züchtung von Monstern an der Schöpfung versündigt? Wie auch immer… Der Wein jedenfalls ist angekommen in der globalisierten Industriegesellschaft. „Geschmacksoptimierung!“, ruft der önologische Zeitgeist. 

Und dann war es auf einmal da, das T-Wort. TERROIR. Was für ein Wort! Was für ein Sound, oder besser „quel son magnifique“, denn was da in so wohlklingenden Französisch daherkommt, ist schon die halbe Marketing-Miete. Das T-Wort klingt nach Erde, nach Natur und nach Authentizität. Nebulös und geheimnisvoll spielt es darüber hinaus mit der wachsenden Sehnsucht nach Spiritualität. Während sich die Weinproduktion mit dem nüchternen Geist der Wissenschaft in die Industriegesellschaft katapultiert, wird die Aufklärung im Marketing abgeschafft. Verkauft werden nicht mehr Weine mit Analysedaten, sondern Weine mit zielgruppenorientierten Emotionen. Passend zum Zeitgeist. Der Sozialismus als hat gesellschaftliche Utopie endgültig abgedankt und das bürgerliche „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ evoziert nur noch ein müdes Lächeln. Im Vordergrund stehen die Sorgen um Meeresspiegel und Juchtenkäfer und, immer stärker, das Streben nach regionaler Identität, die Sehnsucht nach Heimat. Wiedervereinigt wird das Wort Deutschland wieder salonfähig und dank einer jungen Winzergeneration sind die deutschen Weine dabei, ihr verstaubtes Image ab zu legen. Emotional positiv aufgeladen erobern sie die Speisekarten der Sternerestaurants und die Herzen der Weinfreaks. Und sie schmecken! Und das immer besser! Weine aus roten Trauben emanzipieren sich zu fantastischen Rotweinen und fette Ruländer verpuppen sich zu zartgliedrigen Grauburgundern. Barocke Silvaner werden Balletttänzer und ehemals süßliche Rieslinge strahlen mit Eleganz, Kraft und vibrierender Mineralität. 

Wenn nur die seltsamen Namen nicht wären. Spätlese trocken, Auslese trocken… was für den deutschen Markt einigermaßen funktioniert, lässt die Welt den Kopf schütteln. Waren Spät und Auslesen doch gelernte Synonyme für restsüße Weine. Und das Ganze jetzt auf einmal trocken? 

Was tun? Brainstorming engagierter Vordenker… und es entstand das Konzept „Erstes Gewächs“ Angelehnt an die alte englische Bezeichnung „first growth“ hatten die trockenen Spitzengewächse im VDP nun aber nicht nur einen neuen Namen sondern auch einen sinnvollen Kontext: Die Klassifikation der Weinberge. Vom Öchsle zum Weinberg! Was für ein provokativer Tabubruch mit einer seit 100 Jahren auf scheinbar objektiven Fakten basierenden Weinsystematik. 

Die Klassifikation im VDP bekam Dynamik. Die Ersten Gewächse wanderten aus weinrechtlichen Gründen in den Rheingau, andere Regionen proklamierten Große Gewächse und die Mosel adelte ihre besten Weinberge mit der Bezeichnung Erste Lagen. Chaos auf ganzer Linie. Das neue Jahrtausend begann für den VDP mit schwierigen Diskussionen. Es war ein langwieriger und mühevoller Prozess, bis 2012 die neue Klassifikation dann endlich verabschiedet werden konnte: Gutsweine als solide Basis, Ortsweine im gehobenen Segment, getoppt von den Ersten Lagen und gekrönt von den Großen Lagen. Die Namen von über tausend nicht klassifikationswürdigen Einzellagen sind verschwunden, Kabinett, Spät- und Auslesen kommunizieren ein fruchtiges Geschmacksprofil, und die trockenen Spitzenweine tragen die Namen Erstes Gewächs resp. Großes Gewächs. 


So weit, so gut. Nein, nicht gut, sondern sehr gut. Denn eine mit einer Langeklassifikation verbundene einheitliche Kommunikation von Weinen in einem ganzen Land, in 13 verschiedenen Anbaugebieten mit unterschiedlicher Historie und eigenen Befindlichkeiten, dass soll erst mal jemand nachmachen! Ohne Einmischung staatlicher Organe hat der VDP nicht nur ein weinkulturelles Jahrhundertwerk geschaffen, sondern auch die erste ökonomisch wirklich erfolgreiche Innovation in der bundesdeutschen Weinlandschaft. Immer heller strahlen die deutschen Spitzenlagen nun am Weinhimmel. Und die Großen Gewächse werden mit dem Kosenamen „GG“ international zu steigenden Preisen nachgefragt.

Natürlich bleiben offenen Fragen. Sind die alle Weinberge sinnvoll abgegrenzt, passen die zugelassenen Rebsorten? Ein Großes Gewächs aus Großer Lage – geht das nicht etwas weniger tautologisch? Wie restriktiv sollen die Anforderungen an Pflanzdichte, Erntemengen und Geschmacksprofile sein. Wie ökologisch, wie nachhaltig sollten oder müssten Terroirweine sein. Und, wenn wir schon dauernd das Wort in den Mund nehmen: Wann ist ein Wein denn eigentlich ein Terroirwein. 


In dem französischen Wort stecken neben viel Boden und Region je nach Interpret auch der Winzer und ein wenig von dem, was wir in der deutschen Sprache als Heimat bezeichnen. Ein Terroirwein also ein Wein, bei dem sich diese Dimensionen im Glas wiederfinden. Hört sich erst mal gut an. Terroir ist Herkunft. OK. Aber wie schmeckt ein Weinberg, wie schmeckt eine Region?


Wechselndes Klima, neue Rebsorten, kulturelle Tabus, technische Innovationen… Wein hat sich schon immer kontinuierlich verändert. Typisch und Traditionell funktionieren als Geschmackszuweisung in Europa immer nur dann, wenn die Begriffe auf relativ kleine Zeitfenster beschränkt sind. Und was machen wir mit Kalifornien? Dürfen die keine Terroirweine haben? Und was ist mit einem nach Australien schmeckenden Yellow Tail und einer nach Rheinhessen schmeckende Blue Nun. Es sind Weine mit typischem Regionalcharakter. Und damit ja auch Terroirweine. Und dann? Dann sollten wir das T-Wort lieber vergessen. Oder?


Nein. Wir sollten es nicht vergessen sondern den Begriff inhaltlich erweitern. 

Was haben moderne Erbsündeinterpretationen, feministische Matriarchatsträume, verkitschte Ökoromantik und Naturweinpropaganda gemeinsam? Die Idee der guten Mutter Natur und dem bösen, egoistischen Menschen. Eine ideologisch gefährliche, aber den hirnvernebelnden Zeitgeist gut spiegelnde Rattenfängerparole. In Realiter sind Weinberge keine Naturlandschaften und Weine alles andere als Naturprodukte. Weinberge und Weine wollen der Natur abgerungen werden. Sie sind Kinder der Zivilisation, gehören zur Agrikultur, der wohl ältesten Form der produktiven Interaktion des Menschen mit der Natur.


Hier liegt der kontemporäre Ansatz. Bei der Kultur, bei der Frage nach dem sinnvollen Umgang des Menschen mit der Natur. Wo endet liebevoller Umgang, wo beginnt Vergewaltigung? Wo schlägt ökologisch verantwortliches Handeln um in die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen? Wann verwandelt sich bäuerliches Handwerk in Industrie. Wieviel Individualismus verträgt die geschmackliche Interpretation eines Weinbergs. Oder, anders gefragt: Wieviel akustische Verstärkung verträgt eine Oper? Wieviel Bildbearbeitung eine Fotographie? Wo bleibt „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“? (Walter Benjamin) 


Werden wir konkret und beleuchten als einen Aspekt von vielen die sogenannten Reinzuchthefen. Gut oder schlecht? Natürlich gut, sagt die Gesundheit, denn sie helfen Schwefel einzusparen und produzieren weniger allergene Histamine. Nichts dagegen, sagt die Ökobewegung, solange hier nicht genetisch manipuliert wurde. Kein Problem, sagt jüdische Orthodoxie, solange koscher gearbeitet wurde. Schlecht, sagt die Anthroposophie, denn so oder so sollte Alkohol aus unserem Leben verschwinden. Brauchen wir nicht, sagt die Tradition, schließlich ging’s seit vielen 1000 Jahren ganz gut auch ohne. Auf gar keinen Fall, sagt die Konsequenz, denn es sind ja vor allem die vielen unterschiedlichen wilden Hefen, die neben dem Boden für geschmackliche Authentizität verantwortlich sind. Unverzichtbar, sagt das Controlling, die Risiken sind sonst viel zu groß. Mir doch egal, sagt die Ignoranz, Hauptsache es schmeckt. Super, sagt das Marketing, denn mit der richtigen Hefeauswahl produziere ich genau den Geschmack, den meine Kunden nachfragen. 


Und die Hefe selbst? Wurde ihr fremde DNA eingepflanzt, wurde an ihr mit der Gen-Schere herumgeschnippelt, oder wurde sie klassisch auf bestimmte Merkmale hin gezüchtet? Stammt sie ursprünglich aus den Weinbergen der Region? Oder gar aus eigenem Weinberg? Oder wurde sie aus eigenem Wein herausgefischt wird ganz individuell weiter vermehrt? 


Und was ist wenn die Hefe während der Vinifikation mehrfach aufgerührt wird, der Wein viel Sauerstoff und kaum Schwefel gesehen hat und der Geschmack des Weinbergs nur noch erahnt werden kann?

Wie bei so vielen anderen Aspekten von Terroir gibt es auch hier kein Richtig oder Falsch sondern ein Sinnvoll, eine Perspektive, eine kulturelle Haltung. (Und den Göttern sei‘s gedankt, dass wir in einer ziemlich pluralistischen Gesellschaft leben!) Terroir ist verbandelt mit Komplexität, möchte systemisch gedacht und gefühlt sein. Terroir ist Widersprüchlich und Disruptiv.


Zu kompliziert, verunsichert, gar genervt? Dann doch lieber Industrieweine? Gerne, kein Problem. Der globalisierte Weinmarkt bietet einen riesigen Bauchladen voller reproduzierbarer Geschmackserlebnisse, bietet für jede Zielgruppe das richtige Gefühl im richtigen Preissegment. 


Terroirweine sind die kulturelle Alternative. Sie laden ein zu einer Reise in die Welt zwischen Struktur und Chaos, zu Verunsicherung und Überraschung, zu Provokation und authentischem Genuss. Terroirweine führen uns durch unterschiedliche Regionen, geologische Formationen und Klimaverhältnisse. Und sie begleiten uns zu unterschiedlichen Kulturen, Menschen, Träumen und Fantasien. Terroirweine spiegeln unsere Seelenzustände und erweitern unser Bewusstsein. Sie sind der vielleicht genussvollste Aspekt der Emanzipation. 

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